Lena fällt

 

 

 

Hörspiel

 

 

 

 

SPRECHER: Victor, 1. Stock mitte.

 

VICTOR:

Ich hätte sie gern fallen sehen. Aber es war schon zu spät. Sie war schon gefallen. Bis unten. Und unten dann der ganze Dreck. Das Blut auf den Fliesen. Rotes Blut auf grünen Fliesen. Es lief nur ein bisschen aus ihr heraus. Der Rest blieb in ihr drin. Hätte sie geahnt, dass so viel in ihr drin bleiben würde, vielleicht wäre sie nicht gefallen. Sie hatte es immer farbenfroh gemocht. Sie wäre sicherlich gern eine richtig blutüberströmte Leiche gewesen.

Neulich im Treppenhaus sagte sie zu mir:

 

LENA:

Guten Morgen, Viktor mit k, würdest du mir einen Gefallen tun?

 

VICTOR (zu sich):

Sie nannte mich immer Viktor mit k, ich weiß nicht, warum, mein Victor wird mit c geschrieben, ich habe keine blasse Ahnung, warum sie mich Viktor mit k nannte, vielleicht gefiel es ihr einfach. Sie stand also im Treppenhaus und fragte mich:

 

LENA:

Guten Morgen, Viktor mit k, würdest du für mich morgen etwas Rotes anziehen?

 

VICTOR (zu sich):

Sie hatte öfter solche Einfälle, ich hatte vor, mich nicht mehr darüber zu wundern. Letzten Monat stand sie vor meiner Tür und fragte, ob sie ihr Einrad und ihre drei Küchenmesser von meinem Balkon wieder aufsammeln dürfte, sie wären ihr runtergefallen. Wir gingen auf den Balkon. Das Einrad war hin. Die Messer steckten im Basilikum. Während ich mich also nicht darüber wunderte, schlenderte sie nach oben, und ich konnte ihr ein wenig unter ihren gestreiften Rock gucken. Am nächsten Tag zog ich mein rotes Hemd an, einfach um zu sehen, was passiert, aber ich traf sie nicht. Ich habe sie gar nicht mehr getroffen. Das Hemd habe ich heute Morgen verbrannt. Meine Hände riechen noch nach verbrannter Baumwolle. Verbrannte Baumwolle riecht ein wenig wie verbrannte Haare.

Ich mochte sie gern ansehen. Sie hatte einen weiblichen Gang und ich durfte ihr manchmal bis nach oben folgen. Oben durfte ich mich dann entscheiden, ob ich ihr noch beim Umziehen zusehen wollte. Meist wollte ich. Ja. Klar. Doch. Und meist zog sie ihren Rock aus und eine Jogginghose an. Ich musste dann im Flur stehen bleiben, und sie ging ins Schlafzimmer und zog ihren Rock aus und die schwarze Jogginghose an. Und immer blieb sie barfuß.

Ich hätte sie wirklich gern fallen sehen. Ich sehe Menschen gern beim Fallen zu.

 

LENA:

Kinder fallen ja auch immer aus dem Mutterleib raus.

 

VICTOR (zu sich):

Als Hebamme hatte sie da wohl recht.

 

LENA:

Ich hab schon viele Kinder aus ihrer Mutter rausfallen sehen, und fast alle fangen danach an zu brüllen.

 

VICTOR (zu sich):

Sie ließ ihren Rock fallen.

 

LENA:

Alles fängt mit dem Fallen an.

 

VICTOR:

Weißt du, Lena, ich habe neulich wieder jemanden fallen sehen.

 

(zu sich):

Sie schob den schlabbrigen, schwarzen Joggingstoff über ihre Schenkel.

 

(zu Lena):

Vom Kran. Du weißt doch, der Kran, der hinter unserem Haus steht, der Führer stieg aus und fiel einfach runter. Zwanzig Meter.

 

LENA:

Vielleicht war er betrunken.

 

VICTOR (zu sich):

Lena, mit nackten Füßen, sie hatte rotlackierte Zehennägel.

 

(zu Lena):

Er sah nicht so aus, als ob er freiwillig gefallen wäre.

 

LENA:

Woran erkennt man das denn?

 

VICTOR:

Er hat mit den Armen gerudert. Als ob er sich gewehrt hat. Nicht so wie der letzte Woche.

 

LENA:

Letzte Woche?

 

VICTOR:

Der Kerl, der von der Brücke sprang. Er hatte eine blaue Jacke an. Der sprang freiwillig. Er breitete seine Arme aus und ließ sich einfach fallen, der ganze Fall war symmetrisch, wie ein Bungeesprung, nur dass keiner da war, der ihn wieder hochzog.

 

LENA:

Machst du das als Hobby, Menschen beim Fallen zuzusehen?

 

VICTOR:

Irgendwie bin ich immer zur richtigen Zeit am falschen Ort.

 

LENA:

Oder zur richtigen Zeit am richtigen Ort, du hättest ihn ja auch davon abhalten können.

 

VICTOR:

Das würde ich mir nicht anmaßen. Ist doch deren Sache, ob und wann sie ihr Leben beenden. Hinterher hat man nur Ärger. Muss sich wahrscheinlich ständig dafür rechtfertigen, dass sie weiterleben. Ihr kleines dreckiges Leben weiterleben.

 

LENA:

Auch die sind alle mal aus ihrer Mutter rausgefallen!

 

VICTOR:

Ja, aber nicht freiwillig. Es hat sie niemand darum gebeten.

 

LENA:

Wie ist das eigentlich, wenn so einer auf dem Boden aufprallt, gibt das nicht eine Riesensauerei?

 

 

VICTOR (zu sich):

 Sie hielt ihre Nase in die Kaffeedose.

 

(zu Lena):

Na ja, der Aufprall auf dem Wasser ist immer spektakulär.

Ein Riesenknall. Wie eine Bombe. Fontänen spritzen. Und dann war's auch schon vorbei. Kam ja nicht mehr hoch.

Wenn Menschen auf die Erde aufschlagen, ist das schon was anderes. Das ist unschön. Klingt immer dumpf und plötzlich. Und sieht hässlich aus. Nie natürlich. Die Gliedmaßen liegen immer unnatürlich zum Körper verteilt. Wenn sie denn noch dran sind. Und für einen kurzen Moment hört man, wenn das Genick bricht. Knochen knacken.

 

LENA:

Weißt du, Viktor mit k, bei den Babies ist es genau umgekehrt. Ihre Knochen sind so kurz, sie können noch gar nicht brechen, selbst, wenn das Kind runterfällt.

 

VICTOR:

Hast du schon mal ein Baby runterfallen sehen?

 

LENA:

Ja, das kommt schon mal vor. Einmal auf die Seite gerollt, und schon ist das Häufchen vom Wickeltisch gefallen.

 

VICTOR:

Das sind ja ganz neue Perspektiven!

 

LENA:

Nur kein Neid, so oft passiert das nun auch wieder nicht.

 

VICTOR (zu sich):

Wir sahen eine Weile dem Kaffee beim Ziehen zu. Er zog bis unter den Rand der Küchenfliesen und wieder zurück.

 

LENA (plötzlich):

Schlag dir das aus dem Kopf! Vergiss es! Ich werde nicht für dich absichtlich ein Kind fallen lassen!

 

VICTOR (zu sich):

Kleine Schweißperlen krochen aus meinen Fingerkuppen.

 

(zu Lena):

Natürlich nicht, Lena, ich dachte nur ... ich wusste ja nicht ... und vielleicht hätte es auch gar keine .... kein Problem.

 

LENA:

Das ist mir zu aufwendig. Ich muss ein Kind aussuchen, ich muss mit dem Kind allein sein, was schwierig ist, du weißt doch, Mütter wollen immer und überall dabei sein, immer und überall wollen sie an ihrem Kind riechen, immer müssen sie die Füßchen nachzählen, es gibt nichts, woran Mütter bei ihren Säuglingen nicht teilhaben wollen, aber ich glaube nicht, dass sie ihr Kind fallen sehen wollen, noch nicht mal zur Probe!

 

VICTOR:

Schon gut, es soll ja kein Event werden.

 

LENA:

Ich gebe zu, dass mich der Aspekt fasziniert. Warum fallen Menschen eigentlich nicht auf ihre Füße, Katzen können das doch auch?

 

VICTOR (zu sich):

Ich hätte in dem Moment gern ihre Jogginghose angefasst. Den schwarzen Stoff gefühlt und gewusst, dass sich darunter ihre weichen Schenkel befinden, die ich wohl nie würde anfassen dürfen.

 

(zu Lena):

Liegt am Drehimpuls eines Massensystems.

 

LENA: Ah.

 

VICTOR:

Die Katze dreht sich in zwei Akten, zuerst vorne, dann hinten. Wie bei einer Pirouette. Zieht die Vorderbeine an den Körper, damit es schneller geht. Du weißt ja, je näher die Massepunkte bei der Drehachse liegen, umso schneller die Drehung.

 

LENA:

Klar.

 

VICTOR:

Dann die Hinterbeine. Nach acht Zentimetern ist alles vorbei.

 

LENA:

Und was haben wir davon?

 

VICTOR:

Funktioniert übrigens auch bei Meerschweinchen und Hasen.

 

LENA:

Wahrscheinlich sind wir zu fett.

 

VICTOR:

Richtig: Fett, Erdanziehungskraft, Luftwiderstand, Fall, Aufprall. Katze: wenig Fett, langsamer Fall, konstante Endgeschwindigkeit. Eine Katze fällt nie schneller als 80 Kilometer pro Stunde. In New York haben sie mal Katzen aus Wolkenkratzern geworfen, um das zu testen.

 

LENA:

Haben die Katzen danach gekotzt?

 

VICTOR:

Wahrscheinlich hatten sie ein Leben weniger.

 

(zu sich):

Ihre schwarzen, offenen Haare begeisterten mich, sie fielen ihr immer anders auf die Schultern. Jetzt konnten sie sich gerade nicht entscheiden, ob sie hinter oder vor den Ohren herunterfallen sollten.

 

LENA:

Du solltest nach New York ziehen, dort ist die Fallhöhe interessanter.

 

VICTOR:

Würdest du mitkommen?

 

(zu sich):

In diesem Moment sah ich mich und sie, im Big Apple, in Häuserschluchten, unsere vier Augen nach oben, immer auf der Hut, ob irgendjemand aus irgendeinem 74. Stock fiele, das wäre eine wahre Wonne, und wahrscheinlich würden wir ständig unter irgendwelchen Brücken liegen, der Gedanke daran machte mich freudig erregt, ich hielt die Luft an.

 

LENA:

Du weißt doch, David ...

 

VICTOR:

Dein Kind wohnt bei seinem Vater, schon vergessen?

 

(zu sich):

Sie vergaß es tatsächlich manchmal, schmierte morgens Erdnussbutter auf sein Schulbrot, füllte Milch in die Schokocornflakesschüssel, legte den Janoschlöffel daneben, ging ins Kinderzimmer und merkte erst beim Anblick des leeren Bettes, dass sie kein Kind mehr bei sich hatte.

Neulich traf ich sie vor Davids Schule:

 

LENA:

Ich wollte David abholen.

 

VICTOR:

Es sind Ferien.

 

LENA:

Ich weiß ...

 

VICTOR (zu sich):

David erinnerte mich an Katharina, die ich vor hundert Jahren liebte und die auch so etwas wie David wollte. Ich hatte dazu damals noch keine Meinung. Mich störte, dass Katharina immer im Erdgeschoss wohnen wollte. Nie höher als im Erdgeschoss. Sehr erdig, ich hasste den Geruch von Erde schon damals, sie ertrug keine Höhenluft, ab dem ersten Stock wurde ihr schlecht, sie spekulierte auf Gärtchen und Pflänzchen, das war die Zeit, in der ich mich für Frauen ab dem dritten Stock aufwärts zu interessieren begann.

 

(zu Lena):

Dann nehmen wir David einfach mit und begehen Republikflucht.

 

LENA:

Ja, klingt nach einem entspannten Lebensabend.

 

VICTOR:

David geht es gut.

 

LENA:

David ist auch gefallen, und er hatte keine gute Landung.

 

VICTOR:

David geht es gut!

 

(zu sich):

Diese Streitereien um das Sorgerecht zermürbten sie. Ich streckte meine Hand aus, um ihre Wange zu berühren, da klingelte es in ihrer Hose ...

 

LENA (zum Handy):

Ja? … ja.

 

(zu Victor):

Ich muss weg. Eröffnungswehen, es kann gleich losgehen, diese Frau war heute Morgen schon hysterisch.

 

VICTOR:

Schade.

 

LENA:

Ja, schade, Viktor mit k.

Berühren darfst du mich das nächste Mal. Warte nicht auf mich.

 

Eine Wohnungtür wird zugeschlagen.

 

VICTOR (zu sich):

Sie hatten noch nicht mal ihren Rock wieder angezogen.

Sie war so anders. Und wahrscheinlich fiel sie auch anders. Ich werde mir immer vorwerfen, dass ich sie nicht habe fallen sehen, vielleicht ist sie nur für mich gefallen, das wäre das Schlimmste, man trifft nicht viele Menschen, bei denen man das Gefühl hat, man möchte mit ihnen fallen, Lena war so ein Mensch, und ich wünschte, sie würde noch einmal für mich fallen.

 

...

 

 

 

 

 

Copyright: Ursula Schötzig