Samstag

 

 

 

 

 



 

 

 

Ich fand ihn eher zufällig. Ich hatte noch nichts gegessen, und er lag da im Sand, in der Ecke und sah ganz ruhig aus, und ich blickte nach oben, in den Himmel, der blau war, endlich wieder blau, und dann lag er einfach vor mir. Ich bückte mich, aber nicht sofort. Erst ging ich um ihn herum. Seine Beine waren seltsam verschränkt, die Hände gruben sich im Sand ein und sein Blick wirkte starr und einige Locken fielen ihm in die Stirn, die etwas zu blass war. Ich bückte mich also und fühlte seinen Puls, da war kein Puls mehr, ich erschrak ein wenig, aber nur so viel, dass ich Nasenbluten bekam. Ich setzte mich neben ihn in den Sand und sah mir eine Weile die Leiche an.

Eine schöne Leiche, wie ich fand, ich hatte schon schlechtere gesehen. Nicht, dass es von Bedeutung gewesen wäre, aber ich hatte plötzlich das Bedürfnis, den Namen der Leiche zu wissen und suchte seine Brieftasche. Bernd Sonnabend las ich in seinem Ausweis, Rosengasse zwölf, das ist nicht weit entfernt, dachte ich und stellte mir seine Wohnung vor. Diese Leiche hatte bestimmt ein dunkelgrünes Sofa, mit fahler Deckenbeleuchtung, keine weiteren Lichtquellen, in der Küche lagen Pfannen und eingeweichte Töpfe noch von letzter Woche in der Spüle, und im Schlafzimmer quietschte die Schranktür. Ich tat es ganz unwillkürlich, griff in seine rechte Hosentasche, die war leer, in seiner linken fand ich einen Schlüsselbund, es war niemand da, den ich fragen konnte, also packte ich beides in meine Tasche, Schlüssel und Brieftasche und stand auf. Schade, sagte ich zu ihm, du hättest den Himmel heute sehen sollen, Herr Sonnabend, es lohnt sich.

 

 

Diese engen Zimmer im Heim hatte ich nie leiden können. Gut, jeder war wegen irgendwas da, und einige hatten schon versucht, aus dem Fenster zu springen, aber das waren die härteren Fälle und die Gitter davor waren einfach übertrieben. Steffi, meine Zimmernachbarin, hatten sie entlassen, weil sie nun nicht mehr in die Zimmerecke pinkelte, so wie anfangs. Bei mir würde es noch etwas dauern, sagten sie, ich wäre noch nicht so weit.

 

 

Draußen zu sein war gut, ich lief durch Gassen, las Straßennamen, und das Haus, vor dem ich stehenblieb, war rosa. Sonnabend, las ich auf dem Klingelschild, ich kramte die Schlüssel hervor, der dritte Schlüssel passte, im vierten Stock fand ich die passende Tür zum passenden Namen. Mit angemessener Höflichkeit schloss ich die Tür auf und stand in einem gelben Flur. Ich hielt es für angebracht, mich vorzustellen, guten Tag Herr Sonnabend, sagte ich, entschuldigte mich für die ungünstigen Umstände, die uns zusammenführten, lobte allerdings seinen Geschmack, was Farben anging. Möbel fand ich kaum welche, bis auf ein dunkelgrünes Sofa im Wohnzimmer, dafür gab es Raum. Ich setzte mich auf das dunkelgrüne Sofa und betrachtete den Raum. Unter mir blinkte ein Anrufbeantworter, ich drückte eine Taste. Eine quietschende Frau beschwerte sich über eine nicht eingehaltene Verabredung von Seiten Herrn Sonnabends, sie war sehr laut. Ich vermutete, dass sie Lisa, Christin, Maja, Katharina oder Hanna hieß, die Sorge bist du jetzt wohl los, dachte ich und drückte die Löschtaste.

 

Die Küche war erstaunlich sauber, ein Teller, Gläser, Wein und ein Wok. Chinesisch also, sagte ich zu dem Teller, auf dem ich zwei Bambussprossen fand, nicht schlecht für eine Henkersmahlzeit, ich würde es mir merken, für nächstes Mal.

 

 

An die genauen Umstände meiner Einlieferung erinnerte ich mich nicht mehr so genau, ich wusste nur, dass ich geschrien hatte, und das recht ausdauernd. Sie hatten wohl die Leichen meiner Eltern gefunden, beide ziemlich unansehnlich, und jemand hatte vergessen, das Messer wegzuräumen. Es war noch voller Blut, was die Angelegenheit nicht besser machte. Steffi sagte, ich wäre anfangs unerträglich gewesen, mit Anfällen und KopfgegendieWandrennen und so, aber wir wurden trotzdem Freunde, was ich besonders der Tatsache verdanke, dass sie mich abends immer gut behandeln wollte, wie sie es nannte. Ich mochte das, und wir hatten trotz allem eine recht entspannte Zeit zusammen.

 

 

Ich beschloss also zu bleiben, ich wusste sowieso nicht, wohin, mehr als einen Koffer hatte ich nicht, herzlich Willkommen, Herr Sonnabend, sagte ich am nächsten Mittag in dem gelben Flur, und danke für die Gastfreundschaft. Das Bett war breit genug, die Schranktür quietschte nicht und mein Kopf war nicht mehr ganz so eng.

 

Das Telefon klingelte. Ich sah das Telefon längere Zeit an, dann nahm ich ab, hallo, sagte ich, hallo, meldete sich eine Männerstimme, er wolle dringend Herrn Sonnabend sprechen. Worum geht es denn, fragte ich ungehalten, ich fühlte mich gestört und ich mochte es nicht, wenn ich gestört wurde, ja, sagte die Stimme, Herr Sonnabend sei seit Tagen nicht zur Arbeit erschienen, er hätte sich doch wenigstens krank melden können oder ob er verreist sei. Herr Sonnabend ist tot, sagte ich und legte auf.

 

Ich schlief ausgezeichnet. Ab und zu zog ich seinen Pyjama an, er hatte kleine Karos, ich wollte wissen, wie er sich bewegt hatte, Herr Sonnabend, sagte ich, ich hätte dich gemocht. Im Pyjama, der nach Mann roch, nach nichts weiter, nur nach Mann, schlappte ich durch Räume, suchte Aktenordner, suchte Kontoauszüge, oh, dachte ich, das lässt sich sehen. Die Miete wurde abgebucht, ich begann zu rechnen, ich hatte noch vier bis fünf Monate, ehe sein Konto leer war.

 

Es klingelte an der Haustür. Hoffentlich nur ein Päckchen, dachte ich und öffnete. Das Päckchen war jung und blond und sah nicht sehr gut gelaunt aus und hieß bestimmt Hanna, Katharina oder Christin. Bernd ist gerade nicht da, sagte ich, die Frau betrachtete meinen Pyjama. Er ist kurz einkaufen, sagte ich, die Frau fing an schnell zu atmen, so wie ich, als ich Herrn Sonnabend da liegen sah im Sand, das ist nicht dein Pyjama, kreischte sie, nein, sagte ich. Unerheblich zu erwähnen, dass sie daraufhin weglief. Herr Sonnabend, sagte ich, das war nicht sehr höflich.

 

Ich stellte mich bei den Nachbarn vor, sie alle mochten Herrn Sonnabend, also mochten sie auch mich, und sie fanden es sehr bedauerlich, dass Herr Sonnabend für längere Zeit im Ausland sei.

 

 

 

Dieses Geräusch der schweren Eisentür zu unserem Zimmer, wenn sie zufiel, hatte ich beschlossen nicht zu akzeptieren. Irgendwie hatte ich das Gefühl, in meinen Kopf passte nicht alles rein. Ich bat darum, Klarinette spielen zu dürfen, ich mag es, wenn die Äderchen im Kopf sich anstrengen und gegen die Außenhaut donnern. Der Antrag wurde abgelehnt. Paula im Nebenzimmer ging es wohl ähnlich, eines Tages öffnete sie ihr Fenster und ging raus. Na ja, wir befanden uns im neunten Stock. Und kurz darauf wurden die Gitter vor den Fenstern angebracht.

 

 

 

Seit einigen Tagen fühlte ich mich unbehaglich auf dem dunkelgrünen Sofa, es tat, als würde es mich anstarren, als würde etwas fehlen, und ich tat, als würde ich es ignorieren, doch es war da und es wurde immer schwerer und es wurde immer mehr zu einem Männersofa. Ich saß also auf dem Sofa, das immer mehr zu einem Männersofa wurde, wie hast du hier gesessen, Herr Sonnabend, fragte ich mich, du hast bestimmt die Füße auf den Couchtisch gelegt, wie Männer das so tun, während ich das Sofa längsseitig von einer Seite zur anderen belag. Sag doch auch mal was, Herr Sonnabend, sagte ich, mein Kopf schnürte sich wieder so merkwürdig zu. Es klingelte. Ich ging zur Tür, auf Gäste war ich gar nicht vorbereitet, seit einer Woche hatte ich keinen Kaffee mehr im Haus, irritiert öffnete ich die Tür. Die Frau, die vor mir stand, sah genau so aus wie die Leiche, nur etwas älter, und sie hatte zwei uniformierte Herren bei sich. Sie kamen sofort rein und wollten Dinge wissen, über die ich nicht so ohne weiteres reden mochte, das sagte ich ihnen auch. Man beschloss weitere Maßnahmen, sie wollten mich mitnehmen, ich verstand nicht genau wohin, aber man bat mich, einige Sachen zusammenzupacken. Im Schlafzimmer hatte ich noch nicht gelüftet, ich öffnete also das Fenster und als ich rausblickte,

 

fühlte ich mich recht wohl. Als ich auf die Fensterbank stieg, war ich bei äußerst wachem Verstand. Und mein Kopf fühlte sich gar nicht mehr so eng an.